Pro­ve­ni­enz­for­schung und Pro­ve­ni­en­z­er­schlie­ßung

Ein Frau steht zwischen zwei symetrischen Bücherregalreihen und stellt ein Buch zurück ins Regal.
dbv/Nadja Wohlleben

Die Provenienzforschung widmet sich der Geschichte der Herkunft (Provenienz) und der wechselnden Besitzerverhältnisse einzelner Objekte oder Sammlungen. Seit 2019 findet einmal im Jahr der Tag der Provenienzforschung statt, an dem sich auch viele Bibliotheken beteiligen. Die Kommission Provenienzforschung und Provenienzerschließung des dbv ist Ansprechpartnerin für alle Fragen rund um die Herkunft von Bibliotheksbeständen.

Die normierte Erschließung von Besitzzeichen wie z.B. Stempeln, Autogrammen und Exlibris in Büchern und dadurch die Rekonstruktion von Wegen, die ein Buch in die eigene Sammlung genommen hat, wird von Bibliotheken bereits sehr lange betrieben und hat daher einen hohen Grad an Standardisierung erreicht. Besonders Bibliotheken mit umfangreichen Altbeständen widmen sich dem Thema zur Rekonstruktion der eigenen Sammlungsgeschichte. Spezifische Aspekte und historische Zusammenhänge bringen zudem eigene Herausforderungen für die Aufgabenbereiche mit.

NS-verfolgungsbedingt entzogenes Raubgut

Systematischer Raub durch die NS-Behörden war Teil von Verfolgung und staatlichem Terror. Bibliotheken stellten ihre bibliografische Expertise zur Verfügung und profitierten von den Beutezügen und Unterdrückungsmaßnahmen des NS-Regimes. Sie dienten als Sammelstellen für beschlagnahmte Literatur und erwarben wertvolle Buchbestände, die den Verfolgten abgepresst oder geraubt worden waren.

Provenienzmerkmale in den Büchern geben Aufschluss über die beraubten Eigentümer*innen und ermöglichen die Rückgabe von NS-Raubgut an deren Rechtsnachfolger*innen. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich 1998 mit der Unterzeichnung der „Washingtoner Erklärung“ selbst verpflichtet, in öffentlichen Sammlungen nach NS-Raubgut zu suchen und dieses im Rahmen fairer und gerechter Lösungen an die rechtmäßigen Eigentümer*innen zurückzugeben. In der „Gemeinsamen Erklärung“ zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes haben Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände im Dezember 1999 ihre Bereitschaft erklärt, NS-Raubgut zu ermitteln und an die rechtmäßigen Eigentümer*innen zurückzugeben. Die 2001 vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien veröffentlichte Handreichung (Neufassung 2019) fordert die Bibliotheken ausdrücklich dazu auf, in ihren Beständen nach NS-Raubgut zu suchen.

Der dbv engagiert sich im Sinne der „Gemeinsamen Erklärung“ ausdrücklich für die Forschung nach NS-Raubgut in Bibliotheken. Die Kommission Provenienzforschung und Provenienzerschließung ist das zuständige bibliothekarische Fachgremium.

Mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste gibt es einen zentralen Ansprechpartner zu Fragen unrechtmäßiger Entziehung von Kulturgut in Deutschland. Das Zentrum fördert die Provenienzforschung und betreibt zentrale Datenbanken wie die Forschungsdatenbank Proveana und die Lost Art-Datenbank.

Kriegsbedingt verlagertes Kulturgut

Während des Zweiten Weltkrieges plünderten deutsche Einheiten und NS-Organisationen Archive, Bibliotheken und Museen in den besetzten Ländern und verschleppten Sammlungsbestände nach Deutschland. Nach Kriegsende organisierten die Alliierten erste Rückgaben an die Herkunftsländer. Sowjetische Einheiten transportierten wiederum riesige Bestände deutscher Bibliotheken in die Sowjetunion. Andere Bestände blieben an ihren Auslagerungsorten auf polnischem Staatsgebiet zurück. Nach Rückgaben in den 1950er und 1960er Jahren an die DDR befinden sich Teile des von der Sowjetarmee beschlagnahmten Bibliotheksguts heute noch in der Russischen Föderation. Die Frage zu ihrem weiteren Schicksal ist eine völkerrechtliche und diplomatische Frage.

Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten

Unter den von Kolonisatoren abtransportierten oder unter zweifelhaften Umständen erworbenen außereuropäischen Kulturgütern ist auch schriftliches Kulturgut. Daneben finden sich auch Fotografien und weitere Rezeptionsobjekte, die Wissen extrahieren, den Kolonialen Blick aufweisen und eine eurozentrische Sicht auf die Kolonisierten perpetuieren.

Die Provenienzforschung auf diesem Gebiet steht in Bibliotheken noch ganz am Anfang. Seit 2019 ist es möglich, eine Projektförderung bei der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste für Projekte zur Ermittlung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten zu beantragen. Zugleich hat der neue Fachbereich „Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ seine Arbeit aufgenommen

Kulturgutentziehungen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der DDR

In der SBZ wurden im Zuge der Bodenreform Schlösser und Herrenhäuser und deren Einrichtungen und damit auch Adelsbibliotheken enteignet. Die Bestände gelangten in wissenschaftliche Bibliotheken in der DDR (sog. Schlossbergungen), wurden makuliert oder gegen Devisen in den westdeutschen Antiquariatshandel verkauft. Nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (EALG), Art. 2, § 5 von 1994 sind auch enteignete bewegliche Sachen, wie Buchbestände, an die rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben.

Unabhängig von der Rechtslage besteht auch Jahrzehnte nach dem Ende der DDR Bedarf an systematischer Erforschung des Entzuges und Verlustes von Kulturgut zwischen 1945 und 1990. Dies betrifft etwa den eingezogenen Buchbesitz von „Republikflüchtigen“ und andere Kulturgutentziehungen in SBZ und DDR.

dbv-Kommission Provenienzforschung und Provenienzerschließung

Die dbv-Kommission Provenienzforschung und Provenienzerschließung ist im dbv Ansprechpartner für alle Fragen rund um die Herkunft von Bibliotheksbeständen. Sie strebt an, die zur Erforschung und Erschließung von Provenienzen notwendigen Kompetenzen in Bibliotheken zu schaffen und zu erhalten.Dabei bietet sie Hilfestellung an und vertritt die bibliothekarischen Belange in der Öffentlichkeit sowie gegenüber Institutionen wie dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste. Seit Mai 2017 fungiert die Kommission als Geschäftsstelle des Arbeitskreises Provenienzforschung und Restitution – Bibliotheken.

Zum ersten Mal findet 2022 in Berlin ein Zertifikatslehrgang des Weiterbildungszentrums der Freien Universität speziell zur bibliothekarischen Provenienzforschung statt, für den die Kommission Provenienzforschung und Provenienzerschließung des Deutschen Bibliotheksverbandes die inhaltliche Verantwortung übernommen hat. Neben theoretischen Inhalten stehen vor allem praktische Übungen in verschiedenen Berliner Bibliotheken im Vordergrund. Unter Anleitung der beteiligten Expert*innen können die Teilnehmenden das Gelernte unmittelbar erproben und am Objekt Buch ihr Wissen erweitern. Das Weiterbildungsprogramm finden Sie hier.

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